Die vier Brahmavihāra des Buddhismus
Die vier Brahmavihāra sind auf deutsch als Die vier himmlischen Verweilstätten oder Die vier Unermesslichen bekannt. Das sind Freundschaftlichkeit oder Herzensgüte (Mettā), Mitgefühl (Karuṇā), Mitfreude (Muditā) und Gelassenheit (Upekkhā). In der Meditation ruft man diese vier sozialen Emotionen hervor und stellt sich dann vor, sie in alle Richtungen abzustrahlen, so dass der/die Meditierende das Zentrum eines grenzenlosen Feldes der jeweiligen Emotion wird. Diese Grenzenlosigkeit ist vermutlich der Ursprung des Namens "Brahmavihāra", was wörtlich übersetzt soviel heißt wie "Verweilstätte der Brahma". Im Volksglauben des alten Indiens wohnen die Brahmā-Götter in ihren himmlischen Wohnstätten und durchdringen ihre Welten unterschiedlich stark. Genauso soll der/die Meditierende die Welt mit tugendhaften sozialen Emotionen durchdringen (Anālayo 2015, S. 23).
Freundschaftlichkeit, Mitgefühl und Mitfreude sind von Natur aus angenehm und - im Gegensatz zu vielen anderen Freuden des Lebens - bieten sie eine Quelle der Freude, die ohne einen Haken daherkommt. Sie sind durch und durch hilfreich und können aufgrund ihrer Natur kein Leid verursachen. Das einzige Brahmavihāra, das nicht unmittelbar angenehm ist, ist Gelassenheit. Aber, wie weiter unten erklärt, hält Gelassenheit Leid fern und ermöglicht es den anderen drei Brahmavihāra sich selbst in der Gegenwart von Schmerzen ungehindert zu entfalten.
Freundschaftlichkeit (Mettā)
Auf Freundschaftlichkeit (auch bekannt als Liebende Güte oder Herzensgüte) zu meditieren bildet die Basis für die folgenden zwei Brahmavihāra. Es ist die Erfahrung purer, bedingungsloser Freundschaftlichkeit - das Gegenteil von Hass.
Das Mettānisamsa Sutta (AN 11.16) zählt die folgenden 11 Nutzen für jemanden auf, der auf Freundschaftlichkeit meditiert.
"Man schläft unbeschwert ein, wacht unbeschwert auf, und hat keine Albträume. Man wird gemocht von menschlichen und nicht-menschlichen Wesen. Die Devas beschützen einen. Weder Feuer, noch Gift oder Waffen können einem etwas anhaben. Der Geist kann sich leicht konzentrieren. Man sieht heiter aus. Man stirbt ohne Verwirrung und - sofern man nicht weiter vordringt - gelangt in die Brahmawelten."
Da Freundschaftlichkeit die Basis für Mitgefühl und Mitfreude bildet, kann davon ausgegangen werden, dass die Punkte dieser Liste auch für das Üben dieser anderen zwei Brahmavihāra gültig sind. Die Devas und Brahmawelten sind Teil alten indischen Volksglaubens und können vom rationalen Leser guten Gewissens ignoriert werden.
Das Üben von Mettā wird im Karaṇīyamettā Sutta (SN 1.8) genauer beschrieben. Dies ist meine Übersetzung verschiedener englischer Übersetzungen des Suttas (siehe Quellenverzeichnis). Stellenweise zog ich den Pali-Text für Wortbedeutungen hinzu oder habe etwas freier übersetzt, wo es dem Verständnis dienlich schien.
Er, der weiß, was gut und richtig ist, und der wahren Frieden sucht, der soll tun wie folgt: Er soll fähig und aufrecht sein, umgänglich, sanft und bescheiden. Er soll mit wenig zufrieden sein können, ungebunden, ein einfaches Leben führend, die Sinne beruhigt, bedacht und höflich, ohne familiäre Bindung. Er begehe nicht die geringste Tat für die der Weise ihn tadeln würde.
Er denke: "Mögen alle Wesen glücklich und sicher sein, möge es ihnen gut gehen. Was auch immer das für Wesen sind: Ob schwach oder stark, kurz oder lang, klein oder groß, schmal oder breit, ob sichtbar oder unsichtbar, weit oder fern, geboren oder noch ungeboren - Möge es allen Wesen gut gehen."
Er täusche seinen Nächsten nicht oder verachte ihn; er wünsche keinem anderen ein Leid, nicht aus Wut und nicht aus Feindseligkeit.
So wie eine Mutter ihr einziges Kind mit ihrem Leben schützt, so trage er die ganze Welt in seinem Herzen. Seine Liebe sei grenzenlos und allgegenwärtig; sie sei oben, unten und ringsherum; ungehindert, keinen Hass und keine Feinde kennend.
Und ob er steht oder geht, sitzt oder liegt, er sei unermüdlich und behalte all dies stets im Geist; man nennt es das himmlische Verweilen.
Und klammert er sich nicht an alte Ansichten, überwindet tugendhaft und klaren Geistes alles Sinnesbegehren, dann wird er nicht wieder in diese Welt geboren werden.
Mitgefühl (Karuṇā)
Dies ist ein Spezialfall von Freundschaftlichkeit, dem der Wunsch zugrunde liegt, dass das Leid anderer enden möge. Damit ist es das Gegenteil von Grausamkeit. Wo Mettā sich auf alle Wesen bezieht, sowohl leidend, als auch glücklich, richtet sich Karuṇā speziell an die Leidenden.
Mitgefühl ist altruistisch. Wenn ein Freund von dir Schmerzen hat oder krank ist und du ihm wünscht, dass es ihm besser geht - seinetwegen - dann ist das Mitgefühl. Wünscht du ihm aber nur, dass es ihm besser geht, da du am Wochenende mit ihm Zelten gehen möchtest, dann ist das egoistisches Verlangen, nicht Mitgefühl.
Mitgefühl ist positiv. Wenn man Menschen in den Nachrichten leiden sieht und sich schlecht fühlt, dann ist das Mitleid, nicht Mitgefühl im Sinne von Karuṇā. Das muss unterschieden werden: Sich wünschen, dass das Leid anderer endet ist Karuṇā, aber selbst aufgrund von Empathie mitleiden nicht. Man könnte sagen, dass Karuṇā sich auf die Abwesenheit von Leid konzentriert, statt auf das Leid selbst. Hier ist ein subtileres Beispiel: Eine Freundin von dir ist krank und du wünscht ihr, dass sie stark sein möge und die Krankheit siegreich bekämpft. Das ist Mitgefühl für deine Freundin, aber gleichzeitig enthält es einen Wunsch zu kämpfen. Kämpfen bedeutet Aversion und Anstrengung. Das ist nicht positiv und es ist eigentlich auch gar nicht, was du dieser Freundin wünschst. Was wenn sie gar nicht kämpfen bräuchte und dennoch gesund werden würde; wäre das nicht vorzuziehen? Du willst, dass es ihr gut geht, dass sie gesund ist - und genau das ist Karuṇā; nicht mehr und nicht weniger.
Mitfreude (Muditā)
Mitfreude bedeutet an der Freude anderer teilzuhaben. Es ist das Gegenteil von Neid. So wie Karuṇā sich auf leidende Wesen bezieht, richtet sich Muditā an jene, denen es gut geht. Es bedeutet glücklich zu sein, wenn die Menschen um einen herum glücklich sind, unabhängig davon, ob man selbst bekommt, was man will. Wenn deine Nachbarn in der Lotterie gewinnen, erlaubt Muditā dir, sich für sie zu freuen, statt ihnen ihr Vermögen zu neiden. Wenn dein Partner oder Partnerin sich mit seiner/ihrer Ex auf ein Abendessen treffen möchte, ist Muditā glücklich für ihr Wiedersehen und wirkt der Emotion von Eifersucht entgegen. In Situationen, wo es nur einen Gewinner geben kann, freut sich Muditā auch dann für andere, wenn es bedeutet, dass man selbst verliert.
Gelassenheit (Upekkhā)
Gelassenheit ist die Ruhe in deinen Taten, die Stille in deinen Worten, und der Frieden, wenn du streitest. Es ist der Fels in der Brandung und des Geistes emotionaler Airbag. In der Gegenart von Upekkhā gibt sich der Geist weder Freude noch Leid hin. Wenn du gelobt wirst, schützt Upekkhā dich davor, dem Stolz zu verfallen und wenn du getadelt wirst, bewahrt Upekkhā dich vor Wut und Traurigkeit. Wenn du aus Mitgefühl handelst, aber deine Hilfe nicht angenommen wird, wenn du angegriffen wirst, wenn man sich über dich lustig macht oder dich provoziert, erlaubt dir Upekkhā deinen Frieden zu wahren.
Der folgende Auszug aus dem Kakacūpama Sutta (MN 21) ist als das "Sägengleichnis" bekannt.
"Mönche, selbst wenn Räuber euch mit einer Zweimannsäge Glied für Glied brutal zerstückeln, so missfolgt jener unter euch meiner Anweisung, der sein Herz erzürnen lässt. Denn selbst dann sollt ihr üben: 'Unser Geist bleibt unberührt und wir werden keine bösen Worte sprechen. Wir werden mitfühlend bleiben, mit einem wohlwollenden Geist und ohne Hass. Wir werden diese Menschen weiterhin mit einer wohlwollenden Bewusstheit durchdringen und mit ihnen als Anfang werden wir weiterhin die gesamte Welt mit wohlwollender Bewusstheit durchdringen - kraftvoll, weit, unermesslich, frei von Feindseligkeit, frei von böser Absicht.' So sollt ihr üben."
"Mönche, wenn ihr diese Mahnung des Sägengleichnisses ständig im Geist behaltet, gibt es dann irgendeinen Aspekt der Sprache, ob gering oder grob, den ihr nicht ertragen könntet?"
Gelassenheit gibt einem die Fähigkeit etwas Abstand vom Tumult in Körper und Geist zu nehmen, und zu beoachten was geschieht. Der folgende Auszug aus dem Mahāhatthipadopama Sutta (MN 28) illustriert dies.
"Wenn also andere Leute einen Mönch, der das erkannt hat, beleidigen, verleumden, belästigen und in zur Verzweiflung bringen, bemerkt er 'Ein schmerzhaftes Gefühl, geboren aus Ohr-Kontakt, ist in mir aufgekommen und es ist abhängig, nicht unabhängig. Abhängig von was? Abhängig von Kontakt.' Und er sieht, dass Kontakt vergänglich ist, Gefühl vergänglich ist, Wahrnehmung vergänglich ist, Bewusstsein vergänglich ist. Sein Geist, mit dem Erd-Element als Unterstützung, springt auf, wird selbstbewusst, unerschütterlich und frei."
"Und wenn andere Leute einen Mönch auf andere unerwünschte und unangenehme Art angreifen - durch Kontakt mit Fäusten, Kontakt mit Steinen, Kontakt mit Stöcken, Kontakt mit Messern - erkennt er: 'Es liegt in der Natur dieses Körpers, dass er in Kontakt mit Fäusten, Steinen, Stöcken und Messern kommen kann. Wie der Buddha es in seinem Sägengleichnis kundgetan hat: "Mönche, selbst wenn Räuber euch mit einer Zweimannsäge Glied für Glied brutal zerstückeln, so missfolgt jener unter euch meiner Anweisung, der sein Herz erzürnen lässt.", so soll meine Ausdauer geweckt werden und unermüdlich sein, meine Achtsamkeit aufrecht und unbeirrt, mein Körper ruhig und gelassen, mein Geist gesammelt und vereint. Und nun möge Kontakt mit Fäusten, Steinen, Stöcken, Messern über diesen Körper kommen, denn so wird des Buddhas Weisung genügegetan.'"
Gelassenheit (Upekkhā) ist nicht mit Gleichgültigkeit oder Unwissenheit zu verwechseln. Unwissenheit wäre einfach nicht zu wissen, was passiert, aber Gelassenheit existiert ganz wunderbar zusammen mit Erkenntnis und Bewusstheit. Gleichgültigkeit bedeutet, dass man zwar weiß, was geschieht, es einem aber einfach egal ist. Dies dürfte in der Gegenwart von Freundschaftlichkeit, Mitgefühl und Mitfreude allerdings unmöglich sein.
Gelassenheit ist eine weise Reaktion in Fällen, in denen die möglichen Reaktionen allesamt negative Geisteszustände sind. Wenn wir zum Beispiel schikaniert werden, könnten wir wütend werden, furchtsam oder traurig, aber es dürfte uns schwer fallen, uns über die Schikane zu freuen. In diesen Situationen ist Gelassenheit die Reaktion der Wahl, denn sie fängt uns auf wie ein Airbag und macht den Weg frei für die anderen drei Brahmavihāra. Man beachte auch, dass Gelassenheit nicht unbedingt Passivität bedeutet. Man kann Schikane sehr gelassen hinnehmen und dennoch angemessen reagieren und die Situation verändern.
Vielfälgitkeit in der Brahmavihārapraxis
Buddhisten kennen außer der Meditation auch noch eine Reihe von Brahmavihāra-verwandten Ritualen und Praktiken.
Da wäre z.B. das Übertragen von Verdiensten (English: merit, Pali: puñña) an andere. Verdienste sind eine Art spirituelle Währung von der geglaubt wird, dass sie durch großzügige oder tugendhafte Taten, sowie durch Meditation generiert wird und dass sie positive Auswirkungen für die Menschen hat, die sie besitzen. In manchen Traditionen werden die durch das Meditieren erzeugt geglaubten Verdienste nach der Meditationsitzung der Erleuchtung aller Wesen gewidmet. Das ist praktisch ein kleines Brahmavihāra-Ritual zum Abschluss einer Meditationssitzung.
Im tibetischen Buddhismus gibt es eine Praxis, die sich Tonglen nennt. Dabei stellt man sich vor, das Leid anderer Wesen einzuatmen, als solches anzuerkennen und dann Positivität und Glück für alle Wesen auszuatmen.
Die Krönung Brahmavihāra-verwandter Praktiken dürfte das Bodhisattva-Gelübde des Mahāyāna-Buddhismus sein. Die praktizierende Person gelobt für die Befreiung aller Wesen aus dem Kreislauf der Wiedergeburten (Saṃsāra) zu arbeiten, bevor sie selbst nicht mehr wiedergeboren wird. Das ist ein großer Unterschied zum frühen Buddhismus und heutigem Theravādabuddhismus, wo man hauptsächlich mit der eigenen Befreiung beschäftigt ist.
Quellenverzeichnis
Die deutschen Sutta-Zitate in diesem Text sind eigene Übersetzungen der hier aufgeführten englischen Übersetzungen.
- Anālayo (2015). Compassion and emptiness in early Buddhist meditation. Cambridge: Windhorse Publications.
- "Metta (Mettanisamsa) Sutta: Good Will" (AN 11.16) translated by Thanissaro Bhikkhu. Access to Insight (Legacy Edition), 23 July 2013, Link
- "Karaniya Metta Sutta: Good Will" (Sn 1.8), translated from the Pali by Thanissaro Bhikkhu. Access to Insight (Legacy Edition), 30 November 2013, Link
- "Karaniya Metta Sutta: Loving-Kindness" (Sn 1.8), translated from the Pali by Ñanamoli Thera. Access to Insight (Legacy Edition), 29 August 2012, Link
- "Karaniya Metta Sutta: The Buddha's Words on Loving-Kindness" (Sn 1.8), translated from the Pali by The Amaravati Sangha. Access to Insight (Legacy Edition), 2 November 2013, Link
- "Karaniya Metta Sutta: The Hymn of Universal Love" (Sn 1.8), translated from the Pali by Acharya Buddharakkhita. Access to Insight (Legacy Edition), 29 August 2012, Link
- "Karaniya Metta Sutta: The Discourse on Loving-kindness" (Sn 1.8), translated from the Pali by Piyadassi Thera. Access to Insight (Legacy Edition), 29 August 2012, Link
- "Kakacupama Sutta: The Simile of the Saw" (MN 21) by Thanissaro Bhikkhu. Access to Insight (Legacy Edition), 30 November 2013, Link
- "Maha-hatthipadopama Sutta: The Great Elephant Footprint Simile" (MN 28) translated by Thanissaro Bhikkhu. Access to Insight (Legacy Edition), 30 November 2013, Link