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◷ 28 min Lesezeit - 6. Apr. 2018
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Eine Analyse von Wahrheit und Glauben in der Spiritualität

Ein klares Verständnis des Konzeptes der Wahrheit schützt vor Überzeugungen, die einem selbst oder anderen Leid zufügen könnten. In diesem Artikel analysiere ich, wie sich Überzeugungen im Geist bilden, anpassen und festigen, und wie man erkennen kann, welche hilfreich sind und welche nicht. Der Schwerpunkt liegt zwar auf Spiritualität, doch die Konzepte, die im Weiteren erklärt werden, finden bei Fragen zu Glauben und Wahrheit in allen Lebensbereichen Anwendung.

Inhaltverzeichnis

Absolute Wahrheit vs relative Wahrheit

Absolute Wahrheit ist die selbstverständliche, offensichtliche Wahrheit des unmittelbaren Erlebens, die Information, die im gegenwärtigen Augenblick enthalten ist, der Eindruck, wie es ist, zu sein. Das gegenwärtige Erleben ist einfach da und es ist einfach wie es ist. Es kann weder geglaubt noch bezweifelt werden. Jenseits von Glauben und Zweifel zu sein, ist das Markenzeichen absoluter Wahrheit. Sie heißt absolut, weil kein Bezugspunkt existiert, mit dem sie verglichen werden könnte, denn es gibt stets nur ein einziges Gegenwartserleben.

Der Geist abstrahiert das Erleben und bildet daraus Geschichten (Konzepte, Ideen, Ansichten, Aussagen). Eine Geschichte, die der Geist für wahr hält, heißt Überzeugung (auch Meinung oder Vorstellung). Die Wahrheit einer Geschichte existiert einzig in Relation zu einer gegebenen Menge von Überzeugungen, und heißt deswegen relative Wahrheit. Sie kann, im Gegensatz zur absoluten Wahrheit, angezweifelt werden, was immer dann geschieht, wenn eine neue Geschichte den momentanen Überzeugungen widerspricht.

Hier ein Beispiel, das den Unterschied zwischen absoluter und relativer Wahrheit verdeutlicht: Wenn man eine optische Täuschung erlebt, dann ist die Erfahrung selbst einfach wie sie ist. Ihre Wahrheit ist selbstverständlich und absolut. Aber die Geschichte davon, was man gerade erlebt, steht im Konflikt mit der Vorstellung davon, was man erleben sollte. Dies beschert dem Gehirn ein wenig Arbeit, die neue Geschichte mit den Bestehenden zu integrieren.

Relative Wahrheit hat einige Vorteile gegenüber absoluter Wahrheit. Letztere existiert einzig und allein im gegenwärtigen Augenblick, wohingegen die relative Wahrheit unserer Erinnerungen es uns erlaubt, die Zukunft abzuschätzen und entsprechend zu planen. Absolute Wahrheit kann nur erlebt werden, nicht kommuniziert, wohingegen Geschichten unmittelbar weitergegeben werden können, ob natürlichsprachig, mittels mathematischer Gleichungen oder anderweitig kodiert. Allerdings hat relative Wahrheit auch ihre Nachteile, hauptsächlich den, dass sie Leid verursacht. Wenn eine Überzeugung bestätigt wird, empfindet man Freude, und diese führt, in Gegenwart eines Ichs, zu Verlangen. Wenn einer Überzeugung widersprochen wird, empfindet man Schmerz, und dieser führt, in Gegenwart eines Ichs, meist zu Aversion. Wie ich oft andernorts erklärte, führen Verlangen und Aversion zu Leid.

Verlangen nach Bestätigung

Wann immer der Geist eine Meinung fasst, die zu unseren derzeitigen Überzeugungen passt, empfinden wir Freude. Dieser Effekt ist der Gleiche, ganz egal, ob wir Tratschen oder ein wissenschaftliches Experiment durchführen. Wir genießen das Gefühl, neue Informationen zu erhalten, die unsere gegenwärtige Sicht auf die Welt bekräftigen. Die gesteigerte Gewissheit beruhigt und gibt uns ein Gefühl von Sicherheit, unabhängig davon, ob wir unsere Weltanschauung angenehm oder unangenehm finden. Selbst in einer schrecklichen Situation fühlt es sich gut an, „Ich hab’s gewusst“ oder „Ich hab’s dir doch gleich gesagt“, sagen zu können.

Es ist nicht überraschend, dass die Freude, seine Überzeugungen zu bestätigen, zu Verlangen nach mehr führt. Dies resultiert im sogenannten Bestätigungsfehler. Dabei bemüht sich der Geist so stark, Vorstellungen zu bilden, die sich mit Bestehenden decken, um das Verlangen nach Bestätigung zu befriedigen, dass es zu einer Fehlinterpretation der gegenwärtigen Erfahrung kommt. Der Bestätigungsfehler ist ein wohlbekannter Faktor in der wissenschaftlichen Forschung, da er das Ergebnis von Experimenten und Literaturarbeiten in Richtung der Überzeugungen der Forschenden verzerren kann.

Nirgendwo lässt sich das Verlangen nach Bestätigung so gut ausleben, wie im Internet. Wenn du im Web nach neuen Informationen suchst und deine Suchanfrage bereits deine Vermutung enthält, so stehen die Chancen gut, dass diese in den Ergebnissen bestätigt wird. Beispiel: Angenommen, du hast Kopfschmerzen und bekommst Angst, dass diese vielleicht ein Symptom einer schweren Krankheit sein könnten. Also suchst du im Internet nach „Kopfschmerzen“ und dem Namen der Krankheit, vor der du Angst hast. Diese Suchanfrage enthält bereits eine Annahme, die sich auch in den Ergebnissen widerspiegelt. Als Nächstes klickst du vermutlich auf die Überschriften, die am schrecklichsten klingen, und keine fünf Minuten später siehst du deine Diagnose bestätigt. In Wirklichkeit aber hast du vielleicht einfach nur einen Spannungskopfschmerz, weil du dir so viele Sorgen machst.

Die Algorithmen bekannter Webseiten und sozialer Medien verstärken den Bestätigungsfehler noch weiter, indem sie dir mehr Informationen präsentieren, die zu deiner gegenwärtigen Weltanschauung passen, denn sie wissen, dass es dir gefällt und sie wollen, dass du wiederkommst. Das Ergebnis ist, dass du deine eigene kleine Welt generierst, in der alles mit einer anfänglichen Menge Überzeugungen konform geht, bis du vollkommene Gewissheit erlangst, dass die Dinge tatsächlich so sind, wie du glaubst. In Verbindung mit dem Finden neuer Informationen im Internet wurde dieses Phänomen „Filterblase“ getauft und im Kontext der interpersonalen Kommunikation „Echokammer“. Das Problem hat es eigentlich schon immer gegeben, doch wurde es erst durch die Verfügbarkeit schnellen elektronischen Datenaustausches wirklich sichtbar. Wo man früher mit Gleichgesinnten zusammenleben und den Kontakt zur Außenwelt abbrechen musste, braucht man heute nur mit dem Handy online gehen und die Außenwelt ignorieren. Es ist eine Art selbstadministrierte Gehirnwäsche. Es wirkt ironisch, dass unsere Weltbilder scheinbar immer engstirniger werden, je mehr Informationen uns zur Verfügung stehen.

Falls du mit jemandem befreundet bist, der in einem bestimmten Thema/Geschichte/Überzeugung feststeckt, ist dir bestimmt schon aufgefallen, wie er alles, was er erlebt, wieder auf dieses eine Thema zurückführt, und es auch jedes mal zur Sprache bringt. Manchmal ist man völlig verblüfft, wie ein Gehirn diese Assoziationen überhaupt hinbekommt. Dank dem Internet werden täglich mehr von uns zu genau diesem Freund. Der Effekt ist am tragischsten, wenn die betreffende Überzeugung eine unangenehme ist. Falls du z.B. jemanden kennst, der an einer schweren Depression leidet, weißt du, dass der Geist dieser Person selbst die glücklichsten Umstände so zurechtbiegen kann, dass sie schmerzhaft werden. Dafür braucht ein depressiver Mensch nicht mal das Internet, denn das charakteristische Verhalten des Grübelns ist im Prinzip eine interne Echokammer.

Aversion gegen Widerspruch

Wann immer unser Geist eine Geschichte erzählt, die unseren gegenwärtigen Überzeugungen widerspricht, erfahren wir Schmerz. Dies ist als kognitive Dissonanz bekannt.

Die Intensität des Schmerzes (und des Leids, das aus der zugehörigen Aversion resultiert), hängt davon ab, wie sicher wir uns der sich widersprechenden Ansichten sind. Je mehr wir an unseren Überzeugungen hängen, d.h. je mehr wir mit diesen identifizieren („das ist, was ich glaube, es entspricht der Wahrheit und es macht mich zu der Person, die ich bin“), desto stärker ist diese Seite des Konflikts. Je mehr wir unserem Geist vertrauen, die gegenwärtige Erfahrung korrekt zu interpretieren, desto stärker ist die andere Seite des Konflikts. Wenn die widersprechende Geschichte nicht unsere eigene ist, sondern von jemand anderem erzählt wird, hängt die Stärke der anderen Seite von anderen Faktoren ab. Vielleicht vertrauen wir der Person, weil wir mit ihr verwandt sind, vielleicht ist sie sehr bekannt und hat einen großen Einfluss auf andere Menschen, vielleicht ist sie gut ausgebildet, hoch qualifiziert und respektiert, vielleicht waren wir aber in der Vergangenheit auch nur oft der gleichen Meinung (darum existiert Schmeichelei). All das verstärkt die Kraft ihrer Worte.

Ein Konflikt der Überzeugungen im Geist kann verschieden ausgehen. Wenn beide Seiten relativ unsicher sind, passiert nicht besonders viel. Vielleicht zuckt man mit den Schultern und weiß kaum warum. Wenn die momentanen Überzeugungen gewiss sind und die neue Geschichte nicht, bezweifelt man Letztere, tut sie irgendwann als falsch ab und das war’s. Wenn man sich seiner momentanen Meinung nicht sicher ist, aber die neue Geschichte überzeugend klingt, zweifeln wir an dem, was wir derzeit glauben und ändern schließlich unsere Meinung. Doch wenn beide Seiten richtig zu sein scheinen, bekommen wir Probleme. Das ist genau das, was passiert, wenn prominente, einflussreiche Leute sich gegen unsere innersten Überzeugungen und höchsten Werte aussprechen, wenn wir etwas erschreckendes über eine Person herausfinden, die wir gern haben, oder wenn die Weltanschauung eines frommen Religionsanhängers von eindeutigen wissenschaftlichen Beweisen bedroht wird. Dies ist der Grund, warum wir mit unseren Arbeitskollegen normalerweise nicht über Sex, Politik oder Religion sprechen. Es lädt derartige Konflikte geradezu ein.

Der richtige Umgang mit kognitiver Dissonanz ist nicht einfach. Wir könnten Situationen meiden, in denen sie aufkommt, wir könnten versuchen, eine Seite des Konfliktes zum Schweigen zu bringen, wir könnten unsere Ohren und Augen schließen und anfangen zu singen, aber nichts davon ist besonders hilfreich. Die weise Lösung wäre, immer etwas Spielraum für die Möglichkeit zu lassen, dass man sich in allem, was man glaubt, irren könnte. Falls es dafür zu spät ist, kann man immer noch die unangenehmen Gefühle der kognitiven Dissonanz beobachten, während man sie erlebt. Wenn man ruhig und aufmerksam hinschauen kann, löst sich das Problem schnell von selbst.

Bitte reflektiere über kognitive Dissonanz, bevor du weiterliest, denn u.U. stelle ich im Folgenden ein paar deiner Ansichten in Frage, und da dies ein Buch über Spiritualität ist, könnten es welche deiner innersten Überzeugungen sein. Zum Zeitpunkt da ich diesen Artikel schreibe, sind meine Lehren relativ unbekannt, wodurch dein Geist sie leicht abtun kann, aber falls meine Werke einmal beliebt werden sollten, könntest du dich von meinen Ansichten angegriffen fühlen. Falls es dazu kommen sollte, hoffe ich, dass dein Wissen über kognitive Dissonanz dich vor Verärgerung schützt, da du realisierst, dass das Gefühl, von einer Aussage angegriffen zu werden, nur ein Konflikt im Geist ist.

Wie Meinungen zur Gewissheit werden

Der Geist produziert Geschichten, weil es sich als evolutionär sinnvoll herausgestellt hat. Es ist für das Überleben unserer Gene extrem nützlich, zumindest grob die Zukunft vorhersagen, Informationen mit unseren Mitmenschen austauschen, und unsere wichtigsten Überzeugungen an unsere Kinder weitergeben zu können. Das Leid, das dadurch entsteht, ist aus Sicht der Evolution völlig irrelevant, bis es das Überleben der Gene verhindert. Deshalb ist es normal, dass unser Geist Geschichten produziert und diese um Gewissheit, d.i. die Währung des Glaubens/Wissens, kämpfen.

Wenn Geschichten im Geist wiederholt werden, wird man zunehmend davon überzeugt, dass sie wahr sind. Wenn ich einen Apfel loslasse und er runterfällt, wird die Geschichte dieses Vorfalls als Erinnerung abgespeichert. Wenn ich den Apfel ein zweites Mal fallen lasse, wird ein Muster erkennbar. Noch ein paar mal öfter und ich kann bereits mit einiger Gewissheit sagen: „Wenn ich den Apfel loslasse, wird er runterfallen“. Das geht solange gut, bis ich den Apfel auf einen Tisch lege, bevor ich ihn loslasse und er nicht fällt. Dann muss ich meine Überzeugungen entsprechend anpassen. Der Geist ist recht gut darin, Muster zu erkennen, und lernt schnell, dass die meisten Objekte runterfallen, wenn man sie loslässt, und viele Objekte liegenbleiben, wenn man sie loslässt, während sie auf einer ebenen Oberfläche liegen. Im Laufe des Lebens lernen wir immer mehr über die Welt, unsere Sammlung an Meinungen wächst und unsere innersten Überzeugungen sind oft genug wiederholt worden, dass uns ihre Wahrheit vollkommen gewiss scheint.1 Wir nennen solch gewisse Überzeugungen meist Wissen.

Wenn wir alt genug sind, Enkelkinder zu haben, sind manche unserer Überzeugungen so oft bestätigt worden, dass sie zu scheinbar sicherem Wissen geworden sind. Hast du einmal versucht, die Weltanschauung deiner Großeltern zu hinterfragen? Es klappt einfach nicht, oder? Du bist nicht in einer Position ihnen irgendetwas beizubringen. Sie zucken nicht mal mit den Schultern, sondern erklären einfach, dass du schon sehen werdest, dass sie Recht haben, wenn du mal in ihr Alter kommest. Das kann recht frustrierend sein, insbesondere, wenn deine Großeltern unzufrieden mit ihrem Leben sind.

Es ist relativ normal, dass alte Leute in ihren Ansichten festgefahren sind. Ihre Sammlung von Überzeugungen hat sich gut an ihre Umgebung angepasst und ein Optimum gefunden, das ihnen erlaubt, zu überleben. Bei jungen Menschen ist das weniger normal, kommt aber bisweilen vor, und es scheint mir heutzutage öfter vorzukommen, als noch vor wenigen Jahrzehnten. Um das Leid des Verlangens nach Bestätigung und der Aversion gegen Widerspruch zu reduzieren, neigen wir dazu, uns mit Gleichgesinnten zu umgeben und diese Gruppe von widersprechenden Weltanschauungen abzuschirmen. In der Zeit vor dem Internet hatten wir Nationalismus und religiösen Fundamentalismus. Heute haben wir das immer noch, aber, dank Filterblasen und sozialen Echokammern, haben wir jetzt noch viel mehr unterschiedliche Gruppen von Menschen mit starken Überzeugungen, die sich über Dinge echauffieren, die früher noch als kleines Missverständnis galten.

Gewissheit kann zu Wahnvorstellungen führen. Ich habe Bücher von Leuten mit Doktortitel gelesen, die Unmengen an wissenschaftlichen Erkenntnissen ignorierten, nur um ihre Theorien aufrecht zu halten. Sie sagen vielleicht etwas wie: „Nach Jahren der Forschung konnte ich endlich die Zusammenhänge erkennen und dies ist die einzig mögliche Schlussfolgerung“, obwohl es deutliche Beweise dafür gibt, dass ihre Schlussfolgerung einfach falsch ist. Sie dachten lange über das Problem nach und erreichten schließlich „die Wahrheit“, an der sie nicht den geringsten Zweifel hegen. Ihre Weltanschauung ist wie in Stein gemeißelt.

Falls du in spirituellen Kreisen verkehrst, stehen die Chancen gut, dass du bereits ein paar Menschen mit Wahnvorstellungen kennengelernt hast. Sie glauben die seltsamsten Dinge, und wenn du ihre Vorstellungen hinterfragst, ignorieren sie dich entweder, weil du eben einfach „die Wahrheit“ nicht sehen könntest, oder werden wütend, aus Gründen, die du nun verstehst. Was auch immer geschieht, eins funktioniert nicht: eine sachliche, rationale Diskussion mit ihnen zu führen. Genau wie bei älteren Menschen, kann es ziemlich frustrierend sein, wenn einem eine Person wichtig ist, die Wahnvorstellungen hat, und man merkt, dass sie unglücklich mit ihrem Leben ist.

Subjektive Wahrheit vs objektive Wahrheit

Relative Wahrheit kann weiter in subjektive Wahrheit and objektive Wahrheit unterteilt werden. Subjektive Wahrheit ist das, was eine Person glaubt; sie wird in Gewissheit angegeben. Objektive Wahrheit wird durch die wissenschaftliche Methode geschaffen; sie wird in Wahrscheinlichkeit angegeben. Ob eine subjektiv wahre Überzeugung auch Träger objektiver Wahrheit ist, hängt davon ab, ob sie falsifizierbar ist, d.h. ob es prinzipiell möglich ist, Erkenntnisse/Beweise zu finden, die die Überzeugung widerlegen würden. Nicht-falsifizierbare Überzeugungen sind rein subjektiv und enthalten keine objektive Wahrheit.

Die absolute Wahrheit des unmittelbaren Erlebens ist jenseits von Subjektivität und Objektivität. Jede Aussage über absolute Wahrheit ist selbst nur Träger relativer Wahrheit.

Als die sozialen Tiere, die wir sind, legen wir viel Wert auf die Geschichten, die uns von klein auf erzählt werden. Wenn man uns z.B. sagt, dass bestimmte Beeren uns krank machten oder gar umbrächten, wenn wir sie äßen, dann essen wir sie nicht. Die Geschichten, die wir lernen, tendieren dazu, nützlich für unser Überleben zu sein. Was sie so nützlich macht, ist ihre Eigenschaft, Vorhersagen zu treffen. „Äße ich diese Beeren, würde ich krank werden“ ist eine Vorhersage, und wenn sie objektiv wahr ist, ist es eine nützliche. Aber wenn Eltern z.B. nicht genau wissen, welche Beeren genießbar sind und welche nicht, sagen sie vielleicht: „Alle Beeren sind giftig“, was eine weniger nützliche Geschichte ist, da die Vorhersage unnötig einschränkend ist und einem nahrhafte und leckere Beeren vorenthält.

Hier trumpft objektive Wahrheit auf. Wenn du deine Geschwister heimlich die verbotenen Beeren essen siehst und sie nicht krank werden, hast du nun einen Hinweis darauf, dass deine momentane Überzeugung vielleicht nicht so wahr ist, wie du einst dachtest. Wenn alle außer deinen Eltern die Beeren essen, dann ist es ziemlich wahrscheinlich, dass die Geschichte deiner Eltern zwar subjektiv wahr ist (d.h. sie sind sich sicher/haben Gewissheit), aber objektiv falsch (d.h. die Wahrscheinlichkeit ist sehr gering).

Wenn deine subjektive Überzeugung nicht mit einer, durch die wissenschaftliche Methode gefundenen, Wahrscheinlichkeit konform geht, ist es wahrscheinlich, dass Vorhersagen, die auf deiner Überzeugung basieren, sich als falsch herausstellen werden und Entscheidungen, die darauf basieren, nicht besonders klug sind.

Glaubst du, dass die Sonne morgen aufgehen wird? Falls dir gesagt wurde, dass die Welt diese Nacht untergehen wird, und du daran glaubst, ist deine Antwort vielleicht: „Nein“. Der Erfahrung nach ist die Sonne allerdings bisher jeden Morgen aufgegangen, also ist deine Antwort vermutlich: „Ja“. Welche dieser Überzeugungen trägt objektive Wahrheit? Beide, denn morgen werden wir den Beweis haben, der eine dieser Überzeugungen eindeutig widerlegen wird, was beide Überzeugungen gleichermaßen falsifizierbar macht. Mittels der Zahl, wie oft die Sonne in der Vergangenheit morgens aufgegangen ist, können wir auch die Wahrscheinlichkeit berechnen, mit der diese Aussagen sich jeweils als richtig herausstellen werden. Dadurch landen wir bei einer Wahrscheinlichkeit von fast 1 (100%), dass die Sonne aufgehen wird, und einer Wahrscheinlichkeit von fast 0 (0%), dass sie es nicht tun wird.

Man beachte stets, dass wissenschaftliche Erkenntnisse sich teilweise dramatisch davon unterscheiden, was die Medien darüber berichten. Wissenschaftler formulieren ihre Aussagen in der Regel sehr vorsichtig, z.B.: „Es gibt Hinweise darauf, dass dies zutrifft, aber weitere Studien sind notwendig“. Die Medien sind aber nicht an Objektivität interessiert, sondern daran, mehr Zuschauer zu bekommen. Deshalb neigen sie dazu, solche vorsichtigen Formulierungen in etwas zu verwandeln wie: „Wissenschaftliche Studien belegen, dass…“. Wann immer du diese Phrase irgendwo liest oder hörst, ist es klug die Worte zu bezweifeln und wenn dir das Thema wichtig genug ist, die eigentlichen Studien zu lesen. Falls sich jemand die Mühe nicht antut, seine angeblichen wissenschaftlichen Studien auch anzugeben, glaubt man am Besten kein Wort.

Glaube nicht alles, was du denkst

Du weißt, dass die Geschichten anderer Leute falsch sein können; manchmal, weil sie es selbst nicht besser wissen und manchmal, weil sie einen täuschen wollen. Aber wie schaut es mit den Geschichten aus, die der eigene Geist den lieben langen Tag erzählt? Sollte man denen Glauben schenken? Wir tendieren dazu, eine Menge Vertrauen in unsere eigenen Geschichten zu haben, aber, wie sich herausgestellt hat, sollten wir das wohl besser nicht tun.

Es gibt Hinweise darauf, dass der Geist Verständnislücken kreativ auffüllt, statt zuzugeben, dass er etwas nicht weiß. Diese Hinweise stammen aus Studien mit Split-Brain-Patienten. Diesen Patienten wurde das Corpus Callosum, d.i. die Verbindung zwischen den beiden Gehirnhälften (Hemisphären), durchtrennt, als eine drastische Behandlung der Epilepsie. Das Resultat sind im Prinzip zwei Geister in einem Körper. Die linke Hemisphäre bezieht Sinnesinformationen von und steuert die rechte Körperhälfte, und die rechte Hemisphäre die Linke. Sprechen kann allerdings nur die linke Hemisphäre. Es folgt ein Zitat aus einer wissenschaftlichen Arbeit, das die Folgen aufzeigt (eigene Übersetzung aus dem Englischen) .

In einem bekannten Experiment wurde der linken Hemisphäre eines Split-Brain-Patienten ein Foto eines Hühnerfußes gezeigt und der rechten Hemisphäre ein Foto einer Schneelandschaft. Der Patient wurde gebeten, auf diejenige Karte zu zeigen, deren Abbildung mit dem Bild, was er gerade sah, in Verbindung steht. Mit seiner linken Hand (gesteuert von der rechten Hemisphäre) wählte er eine Schaufel, welche zur Schneelandschaft passt und mit der rechten Hand (gesteuert von der linken Hemisphäre) wählte er ein Huhn, welches zum Hühnerfuß passt. Als Nächstes bat der Wissenschaftler den Patienten, zu erklären, warum er jeweils diese Gegenstände ausgewählt habe. Man würde erwarten, dass die sprechende linke Hemisphäre erklärt, warum sie das Huhn ausgewählt hat, aber nicht, warum die Schaufel, da die linke Hemisphäre auf die Information der Schneelandschaft keinen Zugriff hat. Stattdessen antwortete die sprechende linke Hemisphäre des Patienten: „Oh, das ist einfach. Der Hühnerfuß passt zum Huhn und man braucht eine Schaufel um den Hühnermist wegzuräumen“ (Gazzaniga, 2000). Die linke Hemisphäre hat zügig und selbstsicher eine Erklärung für das Verhalten gefunden – eine Erklärung, die zwar falsch ist, aber dennoch plausibel, wenn man den eingeschränkten Informationsstand der linken Hemisphäre bedenkt. In einem anderen Experiment wiesen Wissenschaftler die rechte Hemisphäre eines Split-Brain-Patienten an, aufzustehen. Nachdem der Patient aufgestanden war, fragten sie ihn, warum er das getan habe. Erneut generierte die sprechende linke Hemisphäre eine Erklärung, statt zuzugeben, dass sie nicht wusste, warum er aufgestanden war, und bestand darauf, dass er durstig war und ein Getränk wollte. (Gazzaniga and Miller, 2009). [3]

Wie sehr sollten wir uns also, in Anbetracht der Beweislage, auf die Geschichten unseres Geistes verlassen? Evolutionär betrachtet, sind Wesen, die sich selbst zu ihrem evolutionären Nachteil betrogen, nicht unsere Vorfahren. Daher ist es unwahrscheinlich, dass es für uns evolutionär nachteilig wäre, die Geschichten des Geistes zu glauben. Aber da das Einzige, was die Evolution interessiert, ist, wie erfolgreich wir unsere Gene weitergeben, nicht wie sehr wir dabei leiden. Wenn es unser Ziel ist, Leid zu reduzieren, haben wir daher allen Grund, den Geschichten unseres Geistes mit Skepsis zu begegnen.

Ungewöhnliche Erfahrungen und ihr kulturelles Erbe

Wenn der Geist also keine Antwort parat hat, erfindet er u.U. einfach eine und glaubt daran. Das Verlangen nach Bestätigung und die Aversion gegen Widerspruch sorgen dafür, dass die Gewissheit der entstandenen Überzeugung weiter ansteigt. Wenn dies der Geist einer einflussreichen Person ist, beginnen auch andere Leute, an dessen Geschichten zu glauben. Wahrscheinlich hat sich vor langer Zeit einmal jemand gefragt, wie es eigentlich kommt, dass jeden Morgen die Sonne aufgeht. Ihr Geist hatte bereits gelernt, dass ihr Körper Dinge bewegen kann, also war es plausibel, dass da auch jemand wäre, der die Sonne bewegte. So in etwa dürften die vielen Geschichten über Götter und andere mystische Kreaturen Einzug in unsere Kultur gefunden haben.

Eine Geschichte, die in spirituellen Kreisen besonders beliebt ist, ist die von Energie im Körper. Sie ist unter vielen Namen bekannt, wie z.B. subtile Energie, Lebensenergie, Qì, Kuṇḍalinī oder Prana. Der Ursprung dieser Geschichte ist eine Erfahrung, die allgemein selten ist, aber nicht untypisch für Menschen, die meditieren. Es ist ein angenehmes, energetisierendes, kribbelndes Gefühl, das im Körper zu existieren, und diesen zu durchströmen scheint. Mit etwas Übung kann man lernen, dieses Gefühl zu kontrollieren. Das Wort „Energie“ passt gut zur Erfahrung und es ist nicht verwunderlich, dass so viele Geschichten darüber existieren. Eine dieser Geschichten ist, dass dieses Energie-Gefühl zu Zwecken der Heilung genutzt werden könnte (z.B. Reiki). Wissenschaftliche Studien kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen, was zu erwarten ist, da bei spirituellen Themen der Bestätigungsfehler und die kognitive Dissonanz besonders ausgeprägt sind, aber es scheint eindeutige Grenzen zu geben, bezüglich dessen, was auf diese Weise geheilt werden kann und was nicht. Diese Grenzen decken sich mit denen anderer glaubensbasierter und pseudowissenschaftlicher Ansätze des Heilens (z.B. Wunderheilung, Akupunktur, Homöopathie oder angewandte Kineseologie). Das hängt vermutlich damit zusammen, dass all diese Ansätze auf dem Placebo-Effekt beruhen. Der Placebo-Effekt funktioniert in manchen Bereichen ganz ausgezeichnet, wie z.B. beim Lindern von Schmerzen, aber absolut gar nicht in anderen, wie z.B. verlorene Gliedmaßen nachwachsen zu lassen (was die bekannte Frage beantwortet, warum Gott die Amputierten nicht heilt).

In buddhistischer Meditationspraxis wird die Erfahrung von „Energie“ auf Pali Pīti (Sanskrit: Prīti) genannt und meist als Freude oder Entzücken übersetzt. In den frühbuddhistischen Überlieferungen steht geschrieben, ein Meditierender solle seinen Körper mit diesem Gefühl durchfluten und zur Gänze füllen [1]. In späteren Texten bekam diese Geschichte ein dramaturgisches Update. Dem Visuddhimagga nach, einem bedeutsamen Text im Theravada Buddhismus, gibt es fünf Arten von Pīti: geringes, kurzzeitiges, überschüttendes, erhebendes und durchdringendes. Von geringem Pīti wird gesagt, dass es lediglich vermag, eine Gänsehaut auszulösen, kurzzeitiges Pīti sei wie gelegentliche Blitze und überschüttendes Pīti breche immer wieder über den Körper herein, wie Wellen gegen das Meeresufer schlagen. Vom erhebenden Pīti wird behauptet, es lasse den Körper in die Luft steigen und schweben. Das Visuddhimagga erzählt zwei Geschichten bezüglich des erhebenden Pīti. In der Ersten geht es um jemanden, der meditiert und dann durch die Luft fliegt, wie ein Ball vom Boden abprallt und auf einer Terrasse landet. Die zweite Geschichte ist recht amüsant. Sie handelt von einer schwangeren Tochter, die zuhause bleiben und sich ausruhen soll, statt mit ihren Eltern zu einem religiösen Vortrag zu gehen. Nachdem ihre Eltern gegangen sind, fliegt sie durch die Luft und landet beim Veranstaltungsort, noch bevor ihre Eltern eintreffen. Das ist jedenfalls, was sie ihren Eltern erzählt, als diese fragen, wie sie so schnell hergekommen sei. Von der letzten und stärksten Form von Pīti heißt es, es durchdringe den gesamten Körper, wie eine „gefüllte Blase“ oder eine eine Aushöhlung im Gestein, welche von einem Wildfluss durchströmt würde [2] (Kapitel 4, Absätze 94-98).

Dieses Beispiel illustriert die Evolution einer Geschichte durch viele Geister. Am Anfang war die Erfahrung. Dann beschrieb jemand einem anderen diese Erfahrung. Die Geschichte wurde von Geist zu Geist weitergereicht und veränderte sich immer weiter in diesem Stille-Post-Spiel, bis schließlich ein besonders kreativer Geist Menschen fliegen ließ.

Eine Geschichte, die dem westlichen Kulturkreis etwas nähersteht, ist die des eines Gottes der abrahamischen Religionen (z.B. Judentum, Christentum und Islam). Ich vermute, dass der gemeinsame Ursprung dieser Religionen in der Erfahrung der Erleuchtung liegt. Ich stelle mir das so vor, dass jemand über die vielen Götter gesprochen hat, an die er glaubte, und eine erleuchtete Person dazu sagte: „Weißt du, in Wirklichkeit sind sie alle eins, genau wie du und ich“. Es ist gut vorstellbar, wie man, ein paartausend Jahre Stille-Post später, beim Glauben angelangen kann, dass es nicht viele Götter gibt, sondern nur einen (was übrigens ein Beispiel für eine nicht-falsifizierbare Überzeugung ist).

Eine der großen Fragen, auf die unser Geist Antwort suchen zu scheint, ist: „Was passiert nach dem Tod?“. Manche glauben an Reinkarnation, d.h. dass man in einem anderen Körper wiedergeboren werde, andere glauben, dass man die Ewigkeit mit Gott verbringe. Ich glaube, dass diese Geschichten den gleichen Ursprung haben. Im Zustand der Erleuchtung verliert man das Ich-Gefühl, d.h. die Person, die man einst war, ist nicht mehr und alles ist eins. Aus dieser Einheit wird eine Person geboren, wann immer Identifikation geschieht, ob im eigenen Geist/Gehirn oder in einem anderen. Es ist alles die gleiche Einheit und die gleiche Identifikation, nur unterschiedliche Protagonisten unterschiedlicher Lebensgeschichten in unterschiedlichen Geistern/Gehirnen. Mit Gott zu sein, d.h. die Einheit mit Gott zu erfahren, ist eine Möglichkeit, Erleuchtung zu beschreiben. Wie jede Erfahrung, wird auch diese in der Gegenwart erlebt, nicht in der Zukunft, denn die Zukunft ist eine Geschichte des Geistes. Wir haben all diese subjektiven, nicht-falsifizierbaren Geschichten, was nach dem Tod passierte, aber wie oben erklärt, wenig Grund sie zu glauben. Objektiv betrachtet, endet geistige Aktivität vermutlich mit dem Ende der Gehirnaktivität. Zwar gibt es vielerorts anderswo nach wie vor geistige Aktivität, aber halt nicht länger in diesem Gehirn. Das Universum verliert eine einzigartige Perspektive und einen Haufen Geschichten, aber der „große Geist“, d.h. der Universalprozess geht weiter. Im Geisteszustand der Erleuchtung kann eine Person nicht sterben, denn es gab nie eine Person als solche, nur eine Lebensgeschichte mit einem Protagonisten. Die Geschichte mag irgendwann ein Ende finden, aber das große Ganze existiert weiter.

Durch intensive spirituelle Praxis lassen sich viele ungewöhnliche Erfahrungen machen, wie z.B. Gefühle von Wärme oder Kälte, schneller oder langsamer vergehende Zeit, Farben sehen, Visionen haben, völlige Klarheit erfahren, lebhaftere Sinneseindrücke, außerkörperliche Wahrnehmung usw. Welche davon erfahren werden, wenn überhaupt, hängt von der Praxis und den Dispositionen des Praktiziernden ab. Die beste, mir bekannte objektive Erklärung ist eine selbst-induzierte Stimulation von Neuronen im Inselcortex (Insula). Hinweise darauf kommen von neurowissenschaftlichen Studien mit Epilepsiepatienten, welche sogenannte ekstatische Anfälle (englisch: ecstatic seizures) erleben. Faszinierenderweise beschreiben diese Patienten exakt die gleichen ungewöhnlichen Erfahrungen, die auch aus der spirituellen Praxis verschiedener Traditionen berichtet werden [4, 5]. Da die Forschung bezüglich der Korrelate spiritueller und mystischer Erfahrungen noch in den Kinderschuhen steckt, ist es wenig überraschend, dass in spirituellen Kreisen weiterhin die seltsamsten Geschichten zu diesen Erfahrungen kursieren.

Moral

Moral ist eine Sammlung von Geschichten darüber, wie wir uns verhalten sollten. Es folgt aus der obenstehenden Darlegung, dass solche moralischen Geschichten nur relative Wahrheit tragen und falsifizierbare moralische Geschichten objektive Wahrheit zusätzlich zur subjektiven. Manche Menschen glauben, Moral sei absolut, doch, wenn das wahr wäre, warum kann man sie dann anzweifeln? Die Geschichte absoluter Moral ist selbst nur wahr in Relation zu einer gegebenen Menge von Überzeugungen.

Moralische Überzeugungen kategorisieren Geschichten und Handlungen in hilfreich/gut und hinderlich/schlecht/böse. So wie ich die Dinge sehe, ist Leid das einzig Schlechte in dieser Welt, denn in einer Welt ohne Leid könnte per Definition nichts, was irgendwer tun könnte, für irgendjemanden zum Problem werden. Wie bereits erwähnt, kümmert sich die Evolution wenig darum, ob wir leiden oder nicht. Daher müssen wir die Sache selbst in die Hand nehmen. Hilfreiche Überzeugungen und Handlungen bringen uns dem Ziel der Leidfreiheit näher, hinderliche erhalten den Status Quo und besonders hinderliche entfernen uns sogar von diesem Ziel.

Da menschliches Leid im Zustand der Erleuchtung endet, ist es hilfreich, daran zu arbeiten, diesen Zustand zu erreichen und Andere dort hinzubringen. Wir sollten jeden Pfad erforschen und unterrichten, der effizient zur Erleuchtung führt, bis dieser Zustand völlig normal ist. Wenn eine Technologie entwickelt werden könnte, einen Geist sofort, sicher und ohne Nebenwirkungen zu erleuchten, wäre das sicherlich vielen Stunden spiritueller Praxis vorzuziehen. Wir sollten also in dieser Richtung forschen.

Es gibt Überzeugungen, die uns vom Ziel ablenken, wie z.B. die Überzeugung, dass wir reich, berühmt und mächtig werden müssten. Man kann all diese Dinge sein, oder keins davon – es spielt keine Rolle. Solche Überzeugungen lenken den Geist ab und lassen ihn weiter in der hedonistischen Tretmühle rennen, denn man kann immer noch reicher, berühmter und mächtiger werden. Das kennt kein Ende. Wenn man solch hinderliche Überzeugungen ablegt, kommt man schneller ans Ziel.

Dann gibt es Überzeugungen, die einen Geist aktiv daran hindern, das Ziel zu erreichen. Manche Anhänger abrahamischer Religionen glauben z.B., dass Gott vom Menschen getrennt sein sollte und missbilligen es, die Erfahrung der Einheit mit Gott zu suchen. Solche Überzeugungen sind hinderlich und müssen abgelegt werden, um das Ziel zu erreichen.

Schließlich gibt es besonders hinderliche Überzeugungen, die uns nicht nur daran hindern, jemals Leidfreiheit zu erreichen, sondern sogar noch mehr Leid erzeugen. Ein prominentes Beispiel ist der Glaube, dass Leute, die einen anderen Glauben als den eigenen haben, getötet werden sollten, oder dass es akzeptabel wäre, sie zu töten. Damit die Welt erwachen kann, müssen solche Überzeugungen abgelegt werden. Ein nicht-erleuchteter Geist könnte auf die Idee kommen, dass das Leid der Welt beendet werden könnte, indem man alle leidenden Lebewesen tötete. Aber wer würde das entscheiden? Es wäre sicherlich kein erleuchteter Geist, denn in diesem Zustand sind leidende/unerleuchtete Wesen alle gleichermaßen Teil des Einen/Allen, auch wenn es ihnen nicht bewusst ist. Ihre Einzigartigkeit bereichert die Erfahrung des Daseins. Im erleuchteten Geist erzeugt ihre Anwesenheit Freundschaftlichkeit, ihre Freude Mitfreude und ihr Leid Mitgefühl. Ich könnte mir zwar Beispiele ausmalen, in denen Töten ein Akt des Mitgefühls wäre, aber dies wäre sicherlich der letzte Ausweg.

Effiziente Spiritualität

Ein spiritueller Pfad ist ein Bündel von Geschichten, die dazu motivieren, eine spirituelle Praxis zu pflegen, und die einen bis zum Ziel der Praxis geleiten (insofern der betreffende Pfad die Existenz eines Ziels anerkennt). Entsprechend der obigen Diskussion von Moral ist ein spiritueller Pfad hilfreicher, je effizienter er zur Erleuchtung führt. Aus der Tatsache, dass Erleuchtung keine Geschichte ist, sondern eine Erfahrung, folgt, dass ein hilfreicher spiritueller Pfad absolute Wahrheit relativer Wahrheit vorzieht, d.h. er ist praxisbetont. Allerdings können nur einfache und naive Menschen genug Vertrauen aufbringen, einfach zu üben, wie der Lehrer es ihnen aufträgt. Intellektuellere und skeptischere Menschen können nicht einfach üben, sondern müssen verstehen wie und warum diese Praxis funktionieren soll. Je intellektueller der Schüler, desto ausführlicher müssen die Geschichten des Lehrers sein, und je rationaler der Schüler, desto mehr müssen sie auch objektive Wahrheit tragen.

Sobald du überzeugt genug bist, mit der Praxis zu beginnen, befindest du dich auf dem spirituellen Pfad zur Erleuchtung. Wenn du dir den Pfad als gerade Linie zwischen dir und der Erleuchtung vorstellst, ist jede ungewöhnliche Erfahrung eine Kreuzung. Du kannst die Erfahrung (absolute Wahrheit) als solche anerkennen und hinter dir lassen, oder du kannst fragen: „Was ist das?“, „Warum ist das so?“ oder „Was kann/sollte ich damit machen?“, was dich auf einem Umweg durch das Land der Geschichten führt (relative Wahrheit). Antworten kannst du in spirituellen Traditionen, in der Wissenschaft oder in deinem eigenen Geist finden. Die Antworten der Wissenschaft sind am ehesten objektiv wahr, aber je ungewöhnlicher deine Erfahrungen sind, desto wahrscheinlicher wird es, dass die Antwort lautet: „Wir wissen es nicht“. Wenn du nicht lernst, damit Zufrieden zu sein, solche Dinge nicht zu wissen, wirst du möglicherweise von rein subjektiven Geschichten abgelenkt. Wo irrationale Menschen dazu neigen, sich von Geschichten über Götter und mystische Energien ablenken zu lassen, neigen rationale Menschen dazu, sich von philosophischen Debatten und wissenschaftlicher Spekulation ablenken zu lassen. Im Bezug darauf, Erleuchtung zu erlangen, sind beide Seiten gleichermaßen vom Weg abgekommen.

Fortschritt auf einem spirituellen Pfad hängt nicht von intellektuellem Verständnis ab. Wenn du damit zurechtkommst, nicht zu wissen, schützt du den Geist effektiv davor, sich durch Geschichten vom Kurs abbringen zu lassen. Objektive Wahrheit ist zu begrenzt, um Spiritualität zur Gänze zu erklären, doch nicht-objektive Wahrheit dient nur dazu, den Intellekt zeitweilig zu befriedigen (bis das Verlangen nach Bestätigung oder die Aversion gegen Widerspruch aufkommen und Leid erzeugen). Wenn du dich an die absolute Wahrheit des unmittelbaren Erlebens hältst, wird deine spirituelle Reise zügig und angenehm.

Anmerkungen

  1. Es ist altbekannt, dass die Wiederholung von Geschichten Überzeugungen bestärkt. Dieser Zusammenhang wird aktiv ausgenutzt, um Produkte zu bewerben, und Propaganda und Fehlinformation zu verbreiten.

Quellenverzeichnis

  1. Thanissaro Bhikkhu (Translator). (2013). Samaññaphala Sutta: The Fruits of the Contemplative Life (DN 2). Access to Insight (BCBS Edition). Retrieved from https://www.accesstoinsight.org/tipitaka/dn/dn.02.0.than.html
  2. Bhadantācariya Buddhaghosa, Bhikkhu Ñāṇamoli (Translator). (2011). Visuddhimagga (Vism.) „The Path of Purification“.
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